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1. Eckdaten
Titel: Mother Tongue – Flavours of a Second Generation
(Englisch; bisher leider (!!) keine deutsche Übersetzung)
Autor: Gurdeep Loyal
Verlag: 4th Estate (UK)
Erscheinungsjahr: 2023
2. Inhalt und Konzept
• Beschreibung des Konzepts
„Mother Tongue“ ist weit mehr als ein Kochbuch – es ist ein Manifest der Geschmackskultur einer zweiten Generation. Gurdeep Loyal nimmt uns mit auf eine sehr persönliche Reise, die mit der Küche seiner Mutter beginnt, über die eigene britisch-indische Kindheit führt und sich schließlich in einer zutiefst kreativen, modernen Aromenküche manifestiert, die kulturelle Grenzen nicht einfach überschreitet, sondern mit Neugier und Respekt remixt.
Im Mittelpunkt steht die Frage: Was bedeutet Authentizität, wenn man zwischen mehreren Kulturen lebt und kocht? Gurdeep macht deutlich: Es geht nicht um „Fusion“ im modischen Sinne, sondern um ein kulinarisches Selbstverständnis, das tief verwurzelt und zugleich weltoffen ist. Sein Konzept nennt er selbst „Cultural Collage Cooking“ – und tatsächlich wirkt das Buch wie ein liebevoll kuratiertes Familienalbum mit Rezepten, Erinnerungen, Aromen und Statements.
Er betrachtet seine kulinarische Muttersprache als etwas sich ständig Wandelndes: Eine Partitur, deren Noten sich mit jeder Generation neu mischen, ohne ihre Herkunft zu verlieren. Dabei geht es ihm nicht um die Reproduktion traditioneller Gerichte, sondern um das emotionale Erbe, das in jeder improvisierten Zutat, in jedem aromatischen Akkord weiterlebt.
• Besonderheiten des Buches
- Kulturelle Reflexion statt reiner Rezeptvermittlung:
Die Texte sind hochreflektiert, persönlich, stellenweise essayistisch – dabei immer einladend und warmherzig. - Aromen als Komposition:
Gurdeep spricht von „flavour chords“ – Geschmacksverbindungen, die wie Akkorde funktionieren und alte wie neue Sinneseindrücke verbinden. - Reich an Stimme, Stil und Story:
Besonders hervorzuheben ist die Einführung – ein beeindruckender Text über kulturelle Identität, Migration, Herkunft und Zugehörigkeit, der dem Buch Tiefe und Haltung gibt. - Glossar & Technikteil:
Mit Rezeptanmerkungen und praktischen Tipps wird auch Einsteiger*innen der Zugang erleichtert – etwa durch Infos zu Temperaturen beim Frittieren, Würzgrundlagen oder dem Umgang mit indischen Zutaten.
• Struktur des Buches
Das Inhaltsverzeichnis spiegelt die spielerische Mischung aus Tradition und Kreativität perfekt wider – klassische Kategorien wie „Curries“, „Chutneys“ oder „Desserts“ sind ebenso vertreten wie moderne Alltagskapitel:
•Flavour Chords – Wie Aromen in Gurdeeps Küche „spielen“
•Masala Mixes – Grundgewürzmischungen als Aromengerüst
•CHAATS, Cocktail Bites & Savoury Snacks
•NAAN Wraps, Kati Rolls, Toasts & Sarnies
•Spiced Salads & Quick Pans
•Feasting Dishes, Curries & Thali Bowls
•Raitas, Rice & Sides
•Rotis, Naan, Parathas & Puri
•Chutneys, Sauces, Pickles & Achaar
•Sweet Things, Burfis & Desserts
Die Kapitel erlauben sowohl freies Stöbern als auch gezieltes Nachkochen – und sie spiegeln Gurdeeps Haltung wider: Es geht um kulinarische Zugehörigkeit, nicht um Kategorisierung.
Die Kapitel im Einzelnen betrachtet:
Flavour Chords – How to play with your food
(Deutsch: Geschmacksakkorde – Wie man mit Aromen spielt)
Gurdeep Loyal vergleicht Aromen mit musikalischen Akkorden – und genau wie man auf einem Klavier verschiedene Töne kombiniert, kann man auch Gewürze, Zutaten und Zubereitungstechniken so aufeinander abstimmen, dass neue, harmonische „Akkorde“ entstehen. Die Küche seiner Familie, mit Wurzeln in Punjab und verwoben mit seiner britischen Prägung, wird dabei zur musikalischen Metapher für eine gemischte, dritte Generation der Geschmackswelten. Das Kapitel ist ein kulinarisches Plädoyer für Freiheit, Neugier, kulturelle Wertschätzung – und gegen starre Konzepte von „Authentizität“. Es gliedert sich grob in drei Teile:
1. Theoretischer Einstieg: Aromen als musikalische Struktur (S. 12–13)
- Vergleich mit dem Klavierspiel: Wer nur die „weißen Tasten“ nutzt, bleibt limitiert – mit den „schwarzen Tasten“ (ungewöhnlichen Zutaten) entsteht Vielfalt.
- „Geschmacksnoten als köstliche Musik“ – Loyal nähert sich Aromen fast wie ein Musiker – harmonisch, improvisierend, stets darauf bedacht, Nuancen zu hören und zu verbinden.
- Kulturelle Verantwortung: Er macht deutlich, dass es um Wertschätzung geht – nicht um kulturelle Aneignung. Der Einkauf in Diaspora-Shops (Asia Läden, Türkischen oder Osteuropäischen Supermärkten) sollte zur echten Begegnung mit Fragen werden, nicht bloß zum reinen Zutaten-Shopping.
2. Praktische Prinzipien für eigene Aromen-Kompositionen (S. 13–16)
- „Amplify your pantry“ – den Vorratsschrank mit Zutaten aus globalen Küchen bereichern.
- „Embed global ingredients through tasting“ – Geschmack aktiv üben: nicht nur nach Rezept, sondern durch wiederholtes Probieren die Eigenheiten jeder Zutat kennenlernen.
- „Combine flavour notes into flavour chords“ – aus bekannten Dreiklängen (z. B. Tomate-Knoblauch-Basilikum) durch neue Noten (z. B. Tamarinde oder Togarashi) neue Kombinationen schaffen.
Zentrales Bild: Eine klassische Sauce oder ein Gericht lässt sich durch Hinzufügen „neuer Noten“ geschmacklich komplett verwandeln – ohne die Herkunft zu verleugnen.
3. „Flavour Chord Bubbles“ – visuelles System (S. 16–19)
Hier entfaltet Gurdeep sein zentrales Werkzeug: farbige „Aromenblasen“, in denen Zutaten nach Geschmackscharakter sortiert sind:
- z. B. Chilli & peppery, Earthy & anise, Salty & umami, Sour & citrussy, Fruity, floral & tropical, Nutty & roasted, Herbal & grassy, Creamy & cheesy, Sweet & sugary …
Er regt dazu an, Aromen aus verschiedenen Bubbles zu kombinieren – aber mit Fingerspitzengefühl:
- Kontraste schaffen, ohne zu überlagern
- Säure und Salz gezielt einsetzen
- Keine Geschmacksrichtung darf dominieren
- Herkunft und Bedeutung der Zutaten respektieren
Jede Blase ist wie eine Stimmung, ein Klang – die Kombination bestimmt den Akkord.
„Flavour Chords“ ist nicht einfach ein Methoden-Kapitel – es ist ein stilistisches und gedankliches Fundament für alles, was folgt. Wer sich darauf einlässt, kocht in diesem Buch nicht nach, sondern mit – mit den eigenen Vorräten, dem eigenen Geschmack, den eigenen kulturellen Prägungen.
Masala Mixes (Gewürzmischungen)
Dieses Kapitel versammelt hausgemachte Basismischungen – indische, wie Garam masala, Tandoori masala oder Gunpowder masala, aber auch arabisch inspirierte wie ein Baharat mit Minze oder ein Pistazien-Bockshornklee-Dukkah. Aromatische Pulver, die in Gurdeeps Küche als „Akkordbausteine“ dienen. Jede Mischung steht für eine bestimmte kulinarische Stimmung oder Region und lädt dazu ein, eigene Vorräte anzulegen.
Chaats, Cocktail Bites & Savoury Snacks (Chaats, Häppchen & herzhafte Snacks)
In bester Punjabi-Tradition gibt es bei Gurdeep kein festes Timing für Snacks – chaat time ist jederzeit. Dieses Kapitel ist eine Ode an die Ungeplantheit, die aromatische Vielfalt und das gesellige Teilen. Gegessen wird bankettartig, alles auf einmal, gerne mit den Fingern, gerne bunt gemischt: süß & salzig, scharf & cremig, knackig & weich. Der kulinarische Höhepunkt ist dabei nicht ein einzelnes Gericht, sondern die orchestrierte Geschmacksexplosion aller Elemente – das ist die Magie eines guten Chaat. Snacks sind hier keine Nebensache, sondern ein zentraler Ausdruck indischer Esskultur – vom Frühstück bis Mitternacht.
Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Tikka-Tempura Scampi
Klassische Tikka-Aromen treffen auf eine japanisch inspirierte Tempura-Hülle: ein Indo-Japan-Fusion-Knaller mit Crunch und Saftigkeit.
– Samosas
Die unverzichtbaren, knusprigen Teigtaschen – bei Gurdeep mit raffinierten neuen Füllideen interpretiert: mit Harissa-Paneer-Fenchel und Pistazien oder Punjabi Erbsen-Kartoffel-Füllung.
– Tahini-Malai Chicken Wings mit knusprigem Knoblauch
Eine butterzarte, orientalisch angehauchte Variante mit Malai-Cremigkeit und geröstetem Knoblauch für den extra Kick.
– Pakora & Bhajis
Gemüse in würzigem Teigmantel, ausgebacken zum Goldstandard: herzhaft, erdig, ideal zum Dippen und Teilen.
– Kandierte Masala-Cocktailnüsse
Geröstete Nüsse mit würzig-süßer Hülle: perfekt zu Drinks, als kleiner Happen zwischendurch oder als Geschenk aus der Küche.
Naan Wraps, Kati Rolls, Toasts & Sarnies
In diesem Kapitel geht es um die handliche, kreative Alltagsküche – Brote, Wraps und Toasts werden hier zur Bühne für Third-Culture-Fusion in ihrer leckersten Form. Gurdeep nimmt das einst koloniale Symbol des britischen Sandwichs und dreht es genussvoll um: mit Naan, Dosas, Pittas und jeder Menge Aromen aus der indischen Diaspora.
Wichtigste Zutat: Crunch! Egal ob mit Chips, Chutney Crinkles oder knusprigem Gemüse – jedes Sandwich lebt vom Texturenspiel. Dabei wird auch das „Esswerkzeug“ selbst (Brot, Fladen, Toast) zur aktiven Geschmacksträgerin und Plattform für aromatische Experimente. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Dosas mit Kurkuma und knusprigem Salbei, dazu Blumenkohl-Cashew-Sabji
Knusprige südindische Crêpes treffen auf europäische Kräuterwürze und ein samtig-erdiges Gemüse – ein echtes Comfort-Food mit Twist.
– Erdnussbutter-Tandoori-Pilz-Pittas
Nussig, rauchig, herzhaft: Tandoori-Pilze in cremiger Erdnussbutter verpackt in Pitta-Taschen – ein geschmackliches Crossover mit Suchtpotenzial.
– Grillkäse mit scharfem Rhabarber-Schwarzkümmel-Chutney
Süß-scharf-säuerlich trifft auf schmelzend-würzigen Käse: Ein Streetfood-artiger Snack, der alles hat, was ein gutes Sandwich braucht – nur kein Brot in Reinform.
Spiced Salads & Quick Pans (Würzige Salate & schnelle Pfannengerichte)
Dieses Kapitel feiert die aromatisch aufgeladene Leichtigkeit – hier wird gebraten, geschwenkt, mariniert und vermischt, was Geschmack verspricht. Es geht um Gerichte, die schnell zubereitet sind, aber komplex schmecken: Salate mit Biss, Pfannengerichte mit Röstaromen, Gewürze als Texturverstärker.
Gurdeeps Herangehensweise an Salate ist bewusst unorthodox: Hier gibt’s keine Beilagen, sondern mutige Aromenkombis, inspiriert von Larb, Chaat und den Gewürzpfannen der indischen Homecooks. Und wer „schnelle Pfannen“ erwartet, bekommt mehr als Stir-Fry – hier wird „Quick“ mit kreativer Kühnheit kombiniert. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Jeera-Jeera Lachs mit Granatapfel und Chili-Zuckerschoten
Kreuzkümmel in doppelter Ausführung (einmal als Schwarzkümmel – Shashi Jeera) gibt diesem Lachsgericht Tiefe, während Granatapfel und Zuckerschoten Frische und Crunch beisteuern – ein Aromenknaller.
– Sambhar Hasselback-Süßkartoffeln mit Red Leicester Käse
– Die klassische Hasselback-Technik trifft auf südindische Gewürze und milden britischen Hartkäse – Comfort-Food auf interkulturellem Umweg.
– Desi Kofta Hackbällchen mit klebrigen Mango-Limetten-Tomaten
Herzhafte Fleischbällchen mit intensiver Würze, umgeben von süß-säuerlich-fruchtiger Sauce: perfekt zum Schöpfen, Dippen, Weglöffeln.
– Urfa-Chili Karotten mit salzigem Chai-Joghurt und Datteln
Scharf, süß, salzig und samtig zugleich: ein Ofengericht, das genauso gut auf einem Mezze-Teller wie als Hauptgang funktioniert.
– Larb mit Kurkuma, schwarzem Pfeffer und Kaffirlimette im Salatblatt
Südostasiatische Inspiration trifft auf Desi-Gewürzschule: frisch, würzig, fingerfoodtauglich – ideal auch für Gäste oder heiße Sommertage.
Feasting Dishes, Curries & Thali Bowls (Festessen, Currys & Thali-Schalen)
Hier serviert Gurdeep die aromatische Essenz seiner kulinarischen Heimat: reichhaltige Hauptgerichte, geschmort, gewürzt, geröstet – ideal zum Teilen oder als duftende Einzelhelden auf dem Tisch. In der Einleitung spricht er über die Vielfalt indischer Esskultur weltweit: ob in Trinidad oder Tokyo, Nairobi oder New York – Indischsein hat viele Gesichter, viele Aromen, viele Familientraditionen. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Art des Servierens wider: Im Elternhaus der Loyals gab es kein „Menü“ – alles stand gleichzeitig auf dem Tisch, wie ein „riesiges kulinarisches Tetris-Spiel“ (S. 115). Besonders elegant: die Thali-Tradition – ein großes Teller- oder Bananenblatt-Mahl, umrandet von vielen kleinen, aromatisch abgestimmten Komponenten.Dieses Kapitel bietet Gerichte, die sowohl solo als auch im Ensemble funktionieren – von Comfort Food über Fusion-Knaller bis hin zu Familienklassikern mit neuem Twist. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Gebratenes Huhn mit Curryblättern, Zitronengras und Aleppo-Chili
Ein Aromendreiklang aus Südindien, Südostasien und dem Nahen Osten: duftig, scharf, zitronig und knusprig zugleich – ideal für Gäste oder ein Sonntagsessen.
– Hariyali-Kokosnuss-Fisch Pie
Ein ungewöhnlicher, aber sehr stimmiger Hybrid: frische grüne Kräuter, Chili und viele Gewürze (Hariyali) sowie Kokosnuss als Basis für eine Fischfüllung in der Pie-Form – Comfort-Food mit Delhi-Devon-Flair.
– Kasundi Keema Lasagne-Rollen
Lamm-Hackfleisch in einer pikanten Senfsauce (Kasundi) trifft auf Pasta – ein Spiel mit Form und Funktion, das zeigt, wie gut italienisches Format und bengalischer Geschmack harmonieren.
Rinderrippchen mit Tamarinde, Miso und Datteln
Süß, sauer, umami, dunkel und tiefgründig: Diese geschmorten Ribs gehören zu den komplexesten Gerichten im Buch und sind ein aromatischer Hochgenuss für Fleischliebhaber.
– Lamm Korma mit Haselnüssen und schwarzem Pfeffer
Das klassische nordindische Korma erhält durch Haselnüsse eine samtige Tiefe und wird mit reichlich schwarzem Pfeffer gewürzt – elegant, erdig und rund.
Das Kapitel wird unterbrochen durch einen vierseitigen Einschub: „On going for an ‘Indian’ as a British Indian“ („Indisch essen gehen – aus Sicht eines britischen Inders“). In diesem sehr persönlich geschriebenem Essay geht Gurdeep Loyal der Frage nach, wie es sich anfühlt, als britischer Inder in einem britischen „Curry House“ zu essen – und was das mit Identität, Zugehörigkeit und kulturellem Selbstverständnis zu tun hat.
Er räumt mit dem Vorurteil auf, dass Menschen mit indischem Hintergrund diese Lokale pauschal als „unauthentisch“ abtun würden. Im Gegenteil: Viele, so wie er selbst, verbinden mit den Menüs dieser Restaurants prägende Geschmackserinnerungen – auch wenn diese Gerichte oft nicht direkt aus den Küchen ihrer Familien stammen, sondern vielmehr ein kulinarisches Eigenleben entwickelt haben. Loyal beschreibt mit viel Gespür für kulturelle Zwischentöne, wie sich die Curry-House-Gerichte ab den 1960er-Jahren als eigene kulinarische Stilrichtung in Großbritannien entwickelten – geprägt durch pakistanische, bangladeschische und nordindische Einflüsse, angepasst an britische Erwartungen und dennoch getragen von der Diaspora. Und doch war das Essen in diesen Lokalen für viele Second-Generation-Kids wie Gurdeep ein Akt des „Curry-Camp“: bunt, laut, klischeehaft – aber auch selbstbestimmt, subversiv und identitätsstiftend. Sie haben damit gewissermaßen die Aneignung wieder in Besitz genommen – und verleihen ihr dadurch eine neue Tiefe. So wird „CTM“ (Chicken Tikka Masala) nicht nur zum Lieblingsgericht der britischen Takeaways, sondern zur Brücke zwischen Generationen, zwischen Ländern, zwischen Zugehörigkeiten. Zwei Beispielrezepte aus diesem Einschub:
– Chicken Tikka Masala nach Art der indischen Restaurants in Leicesters Melton Road
Eine Ode an das vermutlich berühmteste Gericht britisch-indischer Herkunft, zubereitet mit sämiger Sauce und aromatischer Tomatennote.
– Balti Cholay mit Sternanis und Minze
Kichererbsen auf die britisch-pakistanische Art: in einer kräftigen Sauce mit unerwarteten Aromen wie Sternanis und frischer Minze – old school meets spice twist.
Raitas, Rice & Sides (Raitas, Reis & Beilagen)
Dieses Kapitel nimmt eine charmante, fast schelmische Wendung: Gurdeep eröffnet mit einem augenzwinkernden Bezug auf das Kama Sutra, nicht als Erotikratgeber, sondern als philosophische Anleitung zu sinnlicher Lebensfreude – Essen inklusive.
Die hier versammelten Beilagen und Nebengerichte sind genau das: kleine, aromatisch aufgeladene Freudenbringer, die einem Gericht Tiefe, Kontrast und Spannung verleihen. Es geht nicht um klassische „Sides“, sondern um kompositorische Bausteine, die durch überraschende Zutaten, Third-Culture-Aromen und ungewöhnliche Paarungen glänzen. Diese Begleiter dürfen das Hauptgericht gern überstrahlen – oder sich in den Vordergrund räkeln, während der Rest des Tellers sich angenehm zurücknimmt. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Dopiaza Kartoffel-Gratin mit Za’atar
Eine Neuinterpretation der Dopiaza Currys (mit viel Zwiebeln!), hier als Auflauf mit cremigen Kartoffeln und Levante-Würze – warm, aromatisch und wunderbar sättigend.
– Fenchel-Confit mit Kaffirlimette und Kreuzkümmel
Langsam geschmorter Fenchel mit zitrusfrischer Note und würziger Tiefe – perfekt als leichtes Sommergericht oder als Beilage zu Currys, Fisch oder Gegrilltem.
– Knusprige Vindaloo-Auberginen mit Sardellen-Chili-Joghurt
Die Süße und Weichheit der Aubergine trifft auf pikant-knackige Kruste, während der salzig-würzige Joghurt mit Sardelle, Chili und cremiger Kühle den perfekten Kontrapunkt setzt – ein echtes Aromenspektakel.
Rotis, Naan, Parathas & Puri (Rotis, Naan, Parathas & Puri – die Kunst der indischen Fladenbrote)
Gurdeep steigt mit einem liebevoll ironischen Vergleich ein: Wenn Punjab die „Kornkammer Indiens“ ist, dann ist seine Wohnung im Londoner East End die „Brotkammer von East London“ – vollgestopft mit kulinarischen Einflüssen aus aller Welt, von Challah bis Bacon-Naan.
In diesem Kapitel zeigt er, wie Brot in der indischen Küche nicht nur Beilage, sondern oft Bühne und Träger aller Aromen ist. Ob in Butter getränkt, in Ghee gebacken oder mit würzigen Füllungen vollgepackt – jedes Rezept hier feiert den wohligen Kohlenhydrat-Genuss. Sein Fazit dazu: „There’s no such thing as bad carbs.“ (S. 185). Mit einem Augenzwinkern stellt er klar: Du brauchst weder Tandoor-Ofen noch Tawa-Pfanne – eine Weinflasche als Nudelholz und eine ganz normale Pfanne auf dem Induktionsherd tun’s auch.
Das Kapitel enthält Basisrezepte für die wichtigsten indischen Brotsorten:
-
- Roti
- Chapati
- Paratha
- Naan
- Puri (frittierte Brotkissen)
in vielfältigen Varianten und mit verschiedenen Ideen für Füllungen. Diese Brote können eigenständige Gerichte sein oder zu Currys, Dals und Chutneys gereicht werden – oft aber sind sie das heimliche Highlight auf dem Teller.
Chutneys, Sauces, Pickles & Achaar (Chutneys, Saucen, Pickles & Achaar – die kleinen Stars mit großer Wirkung)
In Gurdeeps Welt sind Chutneys, Dips und Pickles keine Nebensache – sie sind das geschmackliche Epizentrum vieler Mahlzeiten. In seiner Familie thronen sie in der Tischmitte auf einem Ehrenplatz und bekommen mehr Aufmerksamkeit als manches Hauptgericht.
Ob sorgsam punktuell geträufelt oder leidenschaftlich über alles gegossen – diese würzigen, sauren, süßen oder scharfen Komponenten bestimmen den Ton eines ganzen Tellers. Das Kapitel feiert sie als das, was sie wirklich sind: charakterbildende Elemente, die Textur, Spannung und Identität bringen.
Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff „khararah“ – ein Punjabi-Wort für das Gefühl, wenn Würze schneidend und süchtig machend zugleich ist. Die hier vorgestellten Rezepte sollen genau das erreichen – aber auf Third-Culture-Art: mal indisch inspiriert, mal unerwartet global, immer verspielt. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Koriander-, Frühlingszwiebel- und Curryblätter-Chutney
Grün, frisch, pikant – ein Alleskönner unter den Kräuter-Chutneys mit Tiefgang durch angebratene Curryblätter.
– Tamarinden-, Datteln- und Minzsauce
Fruchtig, sauer, kühlend – ein Klassiker neu aufgestellt, der hervorragend zu Samosas, frittiertem Gemüse oder gegrilltem Fleisch passt.
– Kokosnuss-, Za’atar- und Ahornsirup-Chutney
Eine weiche, runde, Mischung mit nahöstlichem Flair – perfekt zu würzigen Currys als süß-saurer Kontrast.
– Schwarzer Knoblauch, Tamarinden- und Kokum-Ketchup
Dunkel, intensiv, umami: Dieser „Ketchup“ könnte glatt eine Sauce für Gourmet-Burger sein – oder ein extravaganter Dip für Süßkartoffel-Fritten.
– Eingelegte rote Zwiebeln mit Lychees
Süß-sauer, floral, knackig – ein perfekter Farbtupfer auf dem Teller und genial zu scharfem Fleisch oder Reisgerichten.
– Scharfe Mangosauce
Tropisch mit Feuer: Die Sauce verbindet reife Mango mit scharfen frischen Chili und Gewürzen zu einem Hitzeschub, der jedes Gericht anhebt.
Sweet Things, Burfis & Desserts (Süßes, Burfis & Desserts – Zuckerglück in Aromenakkorden)
Dieses Kapitel beginnt mit einer der poetischsten und persönlichsten Passagen des ganzen Buches: Gurdeep erinnert sich an seine erste Reise ins Dorf seiner Mutter im Punjab – eine Flut an Gerüchen, Farben, Geräuschen und Emotionen, fest verbunden mit der Erinnerung an klebrige Toffees, rosa Milchbonbons und den Moment, in dem ihm seine „kulinarische Herkunft“ buchstäblich in die Hand gedrückt wurde. Süßes hat in seiner Familie eine klare Aufgabe: „Moo mitha karo“ – „Versüße dir den Mund“. Dabei geht es nicht nur um Nachspeisen im westlichen Sinn, sondern um emotionale Zuckeranker, um generationsübergreifende Freude, die sich in Burfis, Bonbons, Milchpuddings oder modern interpretierten Torten ausdrückt. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Biskuit-Torte mit Maracuja, Himbeeren und Rosenwasser
Ein optisch spektakuläres Layer-Dessert, das Frucht, Blüte und Zartheit verbindet – ideal für besondere Anlässe oder zum Beeindrucken.
– Klassische Vanille-, Kardamom- und Safran-Burfis
Süß, cremig, schmelzend: Diese Milchkonfekte bringen mit duftenden Gewürzen einen Hauch von Festtag in jede Küche.
– Muffins mit Lychees, Kokosnuss und dunkler Schokolade
Fruchtige Exotik trifft auf herbe Tiefe – ein Dessert mit Soft-Crunch-Textur und Aromen, die neugierig machen.
– Pistazien-Sumach-Madeleines mit Rosen-Milch-Konfitüre
Französische Form, südasiatisches Aroma: ein Paradebeispiel für Gurdeeps Stil. Die Kombination aus nussiger Säure, fluffigem Teig und floraler Süße ist einzigartig.
– Chocolate Chai Pie
Knuspriger Boden, süße Füllung, kräftige Gewürze: Diese Pie bringt den Nachmittagstee in Dessertform auf den Teller – mit Nachdruck.
3. Zielgruppe
„Mother Tongue“ richtet sich an eine sehr vielseitige, neugierige Leserschaft – dieses Buch spricht nicht eine Zielgruppe an, sondern gleich mehrere mit Überschneidungen:
Foodies & Aromenliebhaber*innen
Wer gerne mit Gewürzen experimentiert, mutige Geschmackskombinationen liebt und offen für Third-Culture-Küche ist, wird hier fündig. Die detaillierten Geschmacksbeschreibungen, Flavour-Chord-Konzepte und Zutatenvielfalt machen es zu einer Spielwiese für fortgeschrittene Hobbyköch*innen.
Kulturell interessierte Leser*innen
Loyals sehr persönlicher Zugang zu Essen als Identitäts- und Erinnerungsspeicher macht das Buch besonders reizvoll für alle, die sich für Migration, Zugehörigkeit, kulinarische Erzähltraditionen und kulturelle Hybridität interessieren. Wer Yotam Ottolenghi oder Ravinder Bhogal schätzt, wird sich auch hier zuhause fühlen.
Für Genussmenschen mit Lust auf Storytelling
Die Rezepte sind keine isolierten Anleitungen, sondern Teil eines größeren Narrativs. Wer Kochbücher auch gerne liest, nicht nur bekocht, wird die vielen persönlichen Einschübe, Essays und Reflexionen zu Themen wie Diaspora, „Authentizität“ oder kulinarischer Herkunft mit Gewinn genießen.
Für ambitionierte Hobbyköch*innen mit Basiswissen
Man braucht kein Profiequipment, aber schon ein gutes Grundverständnis für Küchenprozesse und Gewürze. Viele Gerichte sind komplex komponiert, manche Zutaten (wie Kasundi, Kokum, Urfa-Chili, schwarzer Knoblauch) eher in gut sortierten Läden erhältlich – wer Spaß an solchen Entdeckungen hat, ist hier richtig.
Für Second-Generation-Köch*innen und kulinarische Grenzgänger
Wer selbst zwischen Kulturen lebt oder aufgewachsen ist, findet in diesem Buch nicht nur Rezepte, sondern auch ein Stück Spiegel. Gurdeep schreibt explizit für all jene, die sich oft „zwischen allem“ wiederfinden – und genau darin eine neue kulinarische Heimat erschaffen möchten.
4. Rezepte und Vielfalt
- Anzahl der Rezepte: rund 100 Rezepte
- Vielfalt der Gerichte:
Die Rezeptpalette ist bewusst vielschichtig und interkulturell angelegt – von traditionellen indischen Currys bis hin zu ungewöhnlichen Fusion-Gerichten, die mit Elementen aus der japanischen, nahöstlichen, britischen oder sogar amerikanischen Küche spielen. Dazu kommen zahlreiche Brot- und Dipvarianten, schnelle Pfannengerichte, Ofengerichte, Wraps, Chaats und süße Bäckereien – ein Kochbuch, das von der Frühstückszeit bis zum späten Mitternachtssnack einsetzbar ist. - Originalität & Kreativität:
Dieses Buch lebt von kreativen Aromen-Remixen: „Cultural Collage Cooking“ wird nicht nur behauptet, sondern konsequent durchdekliniert. Die „Flavour Chords“ bieten ein komplett neues, spielerisches Vokabular, das Rezeptdenken ersetzt durch Aromendenken. Typische Restaurantgerichte wie Chicken Tikka Masala oder Balti-Cholay werden in eigene Erlebnisse transformiert – keine Nachahmung, sondern persönliche Neuinterpretation. Selbst altbekannte Klassiker (Naan, Roti, Raita, Pickles) bekommen eine neue Tiefe durch ungewöhnliche Zutaten und smarte Twists. Viele der Rezepte sind so individuell, dass man sie nur schwer einer bestimmten Herkunft zuordnen kann – sie sind komponiert, nicht adaptiert. Genau das macht den Reiz aus.
5. Schwierigkeitsgrad
„Mother Tongue“ ist kein Einsteiger-Kochbuch im klassischen Sinne – aber es ist auch kein Buch, das mit komplizierten Techniken prahlt oder Küchenprofis vorbehalten bleibt. Stattdessen lebt es von einem mittleren bis fortgeschrittenen Niveau, bei dem das Wichtigste nicht Messerfertigkeit oder Timing ist, sondern: Aromenverständnis und Neugier. Was man mitbringen sollte ist der Spaß am Kochen mit Gewürzen, insbesondere auch solche, die nicht zum gängigen Standard gehören (Kokum, Urfa-Chili, Kasundi, schwarzer Knoblauch, Curryblätter, Tamarinde etc.). Grundkenntnisse im Umgang mit Teigen, Pfannengerichten und Ofenrezepten sind hilfreich – hier wird nichts ausführlich erklärt, aber vieles intuitiv dargestellt. Und nicht zuletzt: Freude an freiem Nachkochen! Loyal schreibt ausdrücklich, dass Abweichungen von seinen Rezepten willkommen sind – das ist inspirierend, verlangt aber Eigenständigkeit.
Was für Anfänger*innen eventuell herausfordernd sein kann: Einige Rezepte sind mehrstufig und verlangen eine gewisse Planung. Die Zutatenlisten sind manchmal lang, was aber fast immer durch den Geschmack gerechtfertigt ist. Das Zeitgefühl muss oft selbst eingeschätzt werden – die Anleitungen sind eher erzählerisch als schulbuchmäßig. Wer ein wenig vorbereitet und neugierig ist, wird auch als fortgeschrittene*r Anfänger*in schnell Erfolgserlebnisse haben.
Die Rezepte sind also im Schwierigkeitsgrad zwischen mittel bis ambitioniert einzuordnen, aber durch den erzählerischen Stil wird das Buch nie einschüchternd. Eher ist es ein Aufruf, sich mehr zuzutrauen – mit viel Geschmack im Gepäck.
6. Fotografie und Design
- Bildqualität
Die Foodfotografie stammt von Jax Walker – und sie ist bewusst reduziert: Einzelne Teller, Pfannen, Schälchen oder Dips werden ohne drumherum in Szene gesetzt. Die Fotos wirken fast wie ausgeschnitten, ohne Ablenkung durch Umgebung, Tischszenen oder Requisiten. Dadurch rückt das Gericht als solches in den Fokus. Die Kamera blickt meist von oben, seltener von schräg vorne. Küchenutensilien, Hände oder Szenerien fehlen fast komplett – stattdessen wird das Essen selbst zur grafischen Form. Das ergibt eine sehr klare, moderne Bildsprache, fast wie ein Moodboard aus Food-Ikonen.
Was man vermisst: Zubereitungsschritte werden nicht abgebildet, und es gibt nicht zu jedem Rezept ein Foto. Das ist schade, aber die vorhandenen Bilder sind hochwertig, stylisch und konsequent ins Layout integriert.
- Layout und Gestaltung
Für das Design zeichnet Evi O (Evi O Studio) verantwortlich – und das merkt man sofort. Das Buch hebt sich klar vom Standard-Kochbuch ab: Das knallige Cover in kräftigem Pink mit Paisley-Muster ist ein Statement: laut, selbstbewusst, kulturell verankert und gleichzeitig verspielt. Dieses Pink heißt in Indien „gulabi“ (गुलाबी) und ist eine Farbe, die Wärme, Gastfreundschaft und Zuneigung symbolisiert und eine wichtige Rolle im kulturellen Kontext spielt.
Das Paisley-Muster zieht sich wie ein roter Faden durchs Buch: in verschiedenen Farben taucht es immer wieder am Seitenrand oder als Designelement auf – mal dezent, mal auffälliger, immer charmant.Die Grundfarbe innen ist hell und ruhig – viel Weiß, das mit dem Muster kontrastiert. Dadurch entsteht ein aufgeräumter, luftiger Look. Typografie und Seitenstruktur sind sachlich und funktional: Die Schrift ist klassisch-seriös und gut lesbar – auch wenn man bemängeln könnte, dass die Schriftgröße etwas klein geraten ist. Zutatenlisten und Anleitungen sind klar getrennt, der Seitenaufbau ist ordentlich und konsistent.
- Nutzung der Bilder
Die Bilder sind kein reines Styling-Element, aber auch keine Schritt-für-Schritt-Anleitung – sie dienen der ästhetischen Orientierung und der Lust auf den fertigen Teller. Wer visuelle Prozessführung sucht, findet sie hier nicht. Aber wer sich inspirieren lassen möchte, wird in eine moderne, reduzierte Foodwelt hineingezogen, in der das Gericht als Designobjekt inszeniert wird. Besonders gelungen: Die Platzierung der Bilder ist dynamisch, nicht starr. Manchmal mittig, manchmal angeschnitten, immer aber im Dienst der Rezeptidee.
Ein sehr modernes, bewusst cleanes Gestaltungskonzept, das sich klar vom Food-Foto-Einerlei abhebt – stylisch, jung, mutig. Die reduzierte Bildsprache, das immer wiederkehrende Paisley-Muster und die kräftige Farbsprache ergeben ein kohärentes und absolut wiedererkennbares Erscheinungsbild.
7. Sprache und Anleitungen
Gurdeep Loyal schreibt in einem wärmenden, einladenden Ton, der sofort Nähe herstellt, ohne anbiedernd zu wirken. Sein Stil ist persönlich und reflektiert, mit einem ausgeprägten Gespür für kulturelle Zwischentöne, aber auch mit Humor und Selbstironie.
Was auffällt: Er spricht nicht als Küchenchef, sondern als Gastgeber, als jemand, der teilt, was ihn selbst begeistert. Er verwendet viele bildhafte Begriffe („flavour chords“, „cultural collage“, „festival of paisley“), die seinen Rezepten und Essays eine besondere erzählerische Tiefe verleihen. Auch in den Rezepten bleibt er zugänglich und sympathisch – manchmal werden Alternativen oder Variationen gleich mitgeliefert, oft gibt es kleine Hinweise zur Lagerung oder Wiederverwendung. Der freundliche, gut lesbare Ton dürfte auch dem Lektorat von Lucy Bannell zu verdanken sein – der Text ist sorgfältig redigiert, sprachlich durchgängig stimmig und stilistisch einheitlich.
Die Rezeptanleitungen sind praxisnah, gut strukturiert und klar gegliedert.
- Zutaten und Arbeitsschritte sind sauber getrennt – der Aufbau ist durchgehend nachvollziehbar.
- Es wird nichts unnötig verkompliziert, aber man bekommt genug Information, um die Rezepte auch beim ersten Mal sicher umzusetzen.
- Besonders angenehm: Es wird nicht „doziert“, sondern „erklärt“ – sachlich, freundlich, verständlich.
Was man vermissen könnte, ist eine stärkere Gewichtung von Zeitangaben oder Portionierungshinweisen – diese sind vorhanden, aber nicht immer prominent.
Fazit: Ein Buch mit Stimme – und zwar einer echten.
Gurdeeps Ton macht die Lektüre zum Vergnügen
1. Eckdaten
- Titel: Mother Tongue – Flavours of a Second Generation
(Englisch; bisher leider (!!) keine deutsche Übersetzung) - Autor: Gurdeep Loyal
- Verlag: 4th Estate (UK)
- Erscheinungsjahr: 2023
2. Inhalt und Konzept
• Beschreibung des Konzepts
„Mother Tongue“ ist weit mehr als ein Kochbuch – es ist ein Manifest der Geschmackskultur einer zweiten Generation. Gurdeep Loyal nimmt uns mit auf eine sehr persönliche Reise, die mit der Küche seiner Mutter beginnt, über die eigene britisch-indische Kindheit führt und sich schließlich in einer zutiefst kreativen, modernen Aromenküche manifestiert, die kulturelle Grenzen nicht einfach überschreitet, sondern mit Neugier und Respekt remixt.
Im Mittelpunkt steht die Frage: Was bedeutet Authentizität, wenn man zwischen mehreren Kulturen lebt und kocht? Gurdeep macht deutlich: Es geht nicht um „Fusion“ im modischen Sinne, sondern um ein kulinarisches Selbstverständnis, das tief verwurzelt und zugleich weltoffen ist. Sein Konzept nennt er selbst „Cultural Collage Cooking“ – und tatsächlich wirkt das Buch wie ein liebevoll kuratiertes Familienalbum mit Rezepten, Erinnerungen, Aromen und Statements.
Er betrachtet seine kulinarische Muttersprache als etwas sich ständig Wandelndes: Eine Partitur, deren Noten sich mit jeder Generation neu mischen, ohne ihre Herkunft zu verlieren. Dabei geht es ihm nicht um die Reproduktion traditioneller Gerichte, sondern um das emotionale Erbe, das in jeder improvisierten Zutat, in jedem aromatischen Akkord weiterlebt.
• Besonderheiten des Buches
- Kulturelle Reflexion statt reiner Rezeptvermittlung:
Die Texte sind hochreflektiert, persönlich, stellenweise essayistisch – dabei immer einladend und warmherzig. - Aromen als Komposition:
Gurdeep spricht von „flavour chords“ – Geschmacksverbindungen, die wie Akkorde funktionieren und alte wie neue Sinneseindrücke verbinden. - Reich an Stimme, Stil und Story:
Besonders hervorzuheben ist die Einführung – ein beeindruckender Text über kulturelle Identität, Migration, Herkunft und Zugehörigkeit, der dem Buch Tiefe und Haltung gibt. - Glossar & Technikteil:
Mit Rezeptanmerkungen und praktischen Tipps wird auch Einsteiger*innen der Zugang erleichtert – etwa durch Infos zu Temperaturen beim Frittieren, Würzgrundlagen oder dem Umgang mit indischen Zutaten.
• Struktur des Buches
Das Inhaltsverzeichnis spiegelt die spielerische Mischung aus Tradition und Kreativität perfekt wider – klassische Kategorien wie „Curries“, „Chutneys“ oder „Desserts“ sind ebenso vertreten wie moderne Alltagskapitel:
•Flavour Chords – Wie Aromen in Gurdeeps Küche „spielen“
•Masala Mixes – Grundgewürzmischungen als Aromengerüst
•CHAATS, Cocktail Bites & Savoury Snacks
•NAAN Wraps, Kati Rolls, Toasts & Sarnies
•Spiced Salads & Quick Pans
•Feasting Dishes, Curries & Thali Bowls
•Raitas, Rice & Sides
•Rotis, Naan, Parathas & Puri
•Chutneys, Sauces, Pickles & Achaar
•Sweet Things, Burfis & Desserts
Die Kapitel erlauben sowohl freies Stöbern als auch gezieltes Nachkochen – und sie spiegeln Gurdeeps Haltung wider: Es geht um kulinarische Zugehörigkeit, nicht um Kategorisierung.
Die Kapitel im Einzelnen betrachtet:
Flavour Chords – How to play with your food
(Deutsch: Geschmacksakkorde – Wie man mit Aromen spielt)
Gurdeep Loyal vergleicht Aromen mit musikalischen Akkorden – und genau wie man auf einem Klavier verschiedene Töne kombiniert, kann man auch Gewürze, Zutaten und Zubereitungstechniken so aufeinander abstimmen, dass neue, harmonische „Akkorde“ entstehen. Die Küche seiner Familie, mit Wurzeln in Punjab und verwoben mit seiner britischen Prägung, wird dabei zur musikalischen Metapher für eine gemischte, dritte Generation der Geschmackswelten. Das Kapitel ist ein kulinarisches Plädoyer für Freiheit, Neugier, kulturelle Wertschätzung – und gegen starre Konzepte von „Authentizität“. Es gliedert sich grob in drei Teile:
1. Theoretischer Einstieg: Aromen als musikalische Struktur (S. 12–13)
- Vergleich mit dem Klavierspiel: Wer nur die „weißen Tasten“ nutzt, bleibt limitiert – mit den „schwarzen Tasten“ (ungewöhnlichen Zutaten) entsteht Vielfalt.
- „Geschmacksnoten als köstliche Musik“ – Loyal nähert sich Aromen fast wie ein Musiker – harmonisch, improvisierend, stets darauf bedacht, Nuancen zu hören und zu verbinden.
- Kulturelle Verantwortung: Er macht deutlich, dass es um Wertschätzung geht – nicht um kulturelle Aneignung. Der Einkauf in Diaspora-Shops (Asia Läden, Türkischen oder Osteuropäischen Supermärkten) sollte zur echten Begegnung mit Fragen werden, nicht bloß zum reinen Zutaten-Shopping.
2. Praktische Prinzipien für eigene Aromen-Kompositionen (S. 13–16)
- „Amplify your pantry“ – den Vorratsschrank mit Zutaten aus globalen Küchen bereichern.
- „Embed global ingredients through tasting“ – Geschmack aktiv üben: nicht nur nach Rezept, sondern durch wiederholtes Probieren die Eigenheiten jeder Zutat kennenlernen.
- „Combine flavour notes into flavour chords“ – aus bekannten Dreiklängen (z. B. Tomate-Knoblauch-Basilikum) durch neue Noten (z. B. Tamarinde oder Togarashi) neue Kombinationen schaffen.
Zentrales Bild: Eine klassische Sauce oder ein Gericht lässt sich durch Hinzufügen „neuer Noten“ geschmacklich komplett verwandeln – ohne die Herkunft zu verleugnen.
3. „Flavour Chord Bubbles“ – visuelles System (S. 16–19)
Hier entfaltet Gurdeep sein zentrales Werkzeug: farbige „Aromenblasen“, in denen Zutaten nach Geschmackscharakter sortiert sind:
- z. B. Chilli & peppery, Earthy & anise, Salty & umami, Sour & citrussy, Fruity, floral & tropical, Nutty & roasted, Herbal & grassy, Creamy & cheesy, Sweet & sugary …
Er regt dazu an, Aromen aus verschiedenen Bubbles zu kombinieren – aber mit Fingerspitzengefühl:
- Kontraste schaffen, ohne zu überlagern
- Säure und Salz gezielt einsetzen
- Keine Geschmacksrichtung darf dominieren
- Herkunft und Bedeutung der Zutaten respektieren
Jede Blase ist wie eine Stimmung, ein Klang – die Kombination bestimmt den Akkord.
„Flavour Chords“ ist nicht einfach ein Methoden-Kapitel – es ist ein stilistisches und gedankliches Fundament für alles, was folgt. Wer sich darauf einlässt, kocht in diesem Buch nicht nach, sondern mit – mit den eigenen Vorräten, dem eigenen Geschmack, den eigenen kulturellen Prägungen.
Masala Mixes (Gewürzmischungen)
Dieses Kapitel versammelt hausgemachte Basismischungen – indische, wie Garam masala, Tandoori masala oder Gunpowder masala, aber auch arabisch inspirierte wie ein Baharat mit Minze oder ein Pistazien-Bockshornklee-Dukkah. Aromatische Pulver, die in Gurdeeps Küche als „Akkordbausteine“ dienen. Jede Mischung steht für eine bestimmte kulinarische Stimmung oder Region und lädt dazu ein, eigene Vorräte anzulegen.
Chaats, Cocktail Bites & Savoury Snacks (Chaats, Häppchen & herzhafte Snacks)
In bester Punjabi-Tradition gibt es bei Gurdeep kein festes Timing für Snacks – chaat time ist jederzeit. Dieses Kapitel ist eine Ode an die Ungeplantheit, die aromatische Vielfalt und das gesellige Teilen. Gegessen wird bankettartig, alles auf einmal, gerne mit den Fingern, gerne bunt gemischt: süß & salzig, scharf & cremig, knackig & weich. Der kulinarische Höhepunkt ist dabei nicht ein einzelnes Gericht, sondern die orchestrierte Geschmacksexplosion aller Elemente – das ist die Magie eines guten Chaat. Snacks sind hier keine Nebensache, sondern ein zentraler Ausdruck indischer Esskultur – vom Frühstück bis Mitternacht.
Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Tikka-Tempura Scampi
Klassische Tikka-Aromen treffen auf eine japanisch inspirierte Tempura-Hülle: ein Indo-Japan-Fusion-Knaller mit Crunch und Saftigkeit.
– Samosas
Die unverzichtbaren, knusprigen Teigtaschen – bei Gurdeep mit raffinierten neuen Füllideen interpretiert: mit Harissa-Paneer-Fenchel und Pistazien oder Punjabi Erbsen-Kartoffel-Füllung.
– Tahini-Malai Chicken Wings mit knusprigem Knoblauch
Eine butterzarte, orientalisch angehauchte Variante mit Malai-Cremigkeit und geröstetem Knoblauch für den extra Kick.
– Pakora & Bhajis
Gemüse in würzigem Teigmantel, ausgebacken zum Goldstandard: herzhaft, erdig, ideal zum Dippen und Teilen.
– Kandierte Masala-Cocktailnüsse
Geröstete Nüsse mit würzig-süßer Hülle: perfekt zu Drinks, als kleiner Happen zwischendurch oder als Geschenk aus der Küche.
Naan Wraps, Kati Rolls, Toasts & Sarnies
In diesem Kapitel geht es um die handliche, kreative Alltagsküche – Brote, Wraps und Toasts werden hier zur Bühne für Third-Culture-Fusion in ihrer leckersten Form. Gurdeep nimmt das einst koloniale Symbol des britischen Sandwichs und dreht es genussvoll um: mit Naan, Dosas, Pittas und jeder Menge Aromen aus der indischen Diaspora.
Wichtigste Zutat: Crunch! Egal ob mit Chips, Chutney Crinkles oder knusprigem Gemüse – jedes Sandwich lebt vom Texturenspiel. Dabei wird auch das „Esswerkzeug“ selbst (Brot, Fladen, Toast) zur aktiven Geschmacksträgerin und Plattform für aromatische Experimente. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Dosas mit Kurkuma und knusprigem Salbei, dazu Blumenkohl-Cashew-Sabji
Knusprige südindische Crêpes treffen auf europäische Kräuterwürze und ein samtig-erdiges Gemüse – ein echtes Comfort-Food mit Twist.
– Erdnussbutter-Tandoori-Pilz-Pittas
Nussig, rauchig, herzhaft: Tandoori-Pilze in cremiger Erdnussbutter verpackt in Pitta-Taschen – ein geschmackliches Crossover mit Suchtpotenzial.
– Grillkäse mit scharfem Rhabarber-Schwarzkümmel-Chutney
Süß-scharf-säuerlich trifft auf schmelzend-würzigen Käse: Ein Streetfood-artiger Snack, der alles hat, was ein gutes Sandwich braucht – nur kein Brot in Reinform.
Spiced Salads & Quick Pans (Würzige Salate & schnelle Pfannengerichte)
Dieses Kapitel feiert die aromatisch aufgeladene Leichtigkeit – hier wird gebraten, geschwenkt, mariniert und vermischt, was Geschmack verspricht. Es geht um Gerichte, die schnell zubereitet sind, aber komplex schmecken: Salate mit Biss, Pfannengerichte mit Röstaromen, Gewürze als Texturverstärker.
Gurdeeps Herangehensweise an Salate ist bewusst unorthodox: Hier gibt’s keine Beilagen, sondern mutige Aromenkombis, inspiriert von Larb, Chaat und den Gewürzpfannen der indischen Homecooks. Und wer „schnelle Pfannen“ erwartet, bekommt mehr als Stir-Fry – hier wird „Quick“ mit kreativer Kühnheit kombiniert. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Jeera-Jeera Lachs mit Granatapfel und Chili-Zuckerschoten
Kreuzkümmel in doppelter Ausführung (einmal als Schwarzkümmel – Shashi Jeera) gibt diesem Lachsgericht Tiefe, während Granatapfel und Zuckerschoten Frische und Crunch beisteuern – ein Aromenknaller.
– Sambhar Hasselback-Süßkartoffeln mit Red Leicester Käse
– Die klassische Hasselback-Technik trifft auf südindische Gewürze und milden britischen Hartkäse – Comfort-Food auf interkulturellem Umweg.
– Desi Kofta Hackbällchen mit klebrigen Mango-Limetten-Tomaten
Herzhafte Fleischbällchen mit intensiver Würze, umgeben von süß-säuerlich-fruchtiger Sauce: perfekt zum Schöpfen, Dippen, Weglöffeln.
– Urfa-Chili Karotten mit salzigem Chai-Joghurt und Datteln
Scharf, süß, salzig und samtig zugleich: ein Ofengericht, das genauso gut auf einem Mezze-Teller wie als Hauptgang funktioniert.
– Larb mit Kurkuma, schwarzem Pfeffer und Kaffirlimette im Salatblatt
Südostasiatische Inspiration trifft auf Desi-Gewürzschule: frisch, würzig, fingerfoodtauglich – ideal auch für Gäste oder heiße Sommertage.
Feasting Dishes, Curries & Thali Bowls (Festessen, Currys & Thali-Schalen)
Hier serviert Gurdeep die aromatische Essenz seiner kulinarischen Heimat: reichhaltige Hauptgerichte, geschmort, gewürzt, geröstet – ideal zum Teilen oder als duftende Einzelhelden auf dem Tisch. In der Einleitung spricht er über die Vielfalt indischer Esskultur weltweit: ob in Trinidad oder Tokyo, Nairobi oder New York – Indischsein hat viele Gesichter, viele Aromen, viele Familientraditionen. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Art des Servierens wider: Im Elternhaus der Loyals gab es kein „Menü“ – alles stand gleichzeitig auf dem Tisch, wie ein „riesiges kulinarisches Tetris-Spiel“ (S. 115). Besonders elegant: die Thali-Tradition – ein großes Teller- oder Bananenblatt-Mahl, umrandet von vielen kleinen, aromatisch abgestimmten Komponenten.Dieses Kapitel bietet Gerichte, die sowohl solo als auch im Ensemble funktionieren – von Comfort Food über Fusion-Knaller bis hin zu Familienklassikern mit neuem Twist. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Gebratenes Huhn mit Curryblättern, Zitronengras und Aleppo-Chili
Ein Aromendreiklang aus Südindien, Südostasien und dem Nahen Osten: duftig, scharf, zitronig und knusprig zugleich – ideal für Gäste oder ein Sonntagsessen.
– Hariyali-Kokosnuss-Fisch Pie
Ein ungewöhnlicher, aber sehr stimmiger Hybrid: frische grüne Kräuter, Chili und viele Gewürze (Hariyali) sowie Kokosnuss als Basis für eine Fischfüllung in der Pie-Form – Comfort-Food mit Delhi-Devon-Flair.
– Kasundi Keema Lasagne-Rollen
Lamm-Hackfleisch in einer pikanten Senfsauce (Kasundi) trifft auf Pasta – ein Spiel mit Form und Funktion, das zeigt, wie gut italienisches Format und bengalischer Geschmack harmonieren.
Rinderrippchen mit Tamarinde, Miso und Datteln
Süß, sauer, umami, dunkel und tiefgründig: Diese geschmorten Ribs gehören zu den komplexesten Gerichten im Buch und sind ein aromatischer Hochgenuss für Fleischliebhaber.
– Lamm Korma mit Haselnüssen und schwarzem Pfeffer
Das klassische nordindische Korma erhält durch Haselnüsse eine samtige Tiefe und wird mit reichlich schwarzem Pfeffer gewürzt – elegant, erdig und rund.
Das Kapitel wird unterbrochen durch einen vierseitigen Einschub: „On going for an ‘Indian’ as a British Indian“ („Indisch essen gehen – aus Sicht eines britischen Inders“). In diesem sehr persönlich geschriebenem Essay geht Gurdeep Loyal der Frage nach, wie es sich anfühlt, als britischer Inder in einem britischen „Curry House“ zu essen – und was das mit Identität, Zugehörigkeit und kulturellem Selbstverständnis zu tun hat.
Er räumt mit dem Vorurteil auf, dass Menschen mit indischem Hintergrund diese Lokale pauschal als „unauthentisch“ abtun würden. Im Gegenteil: Viele, so wie er selbst, verbinden mit den Menüs dieser Restaurants prägende Geschmackserinnerungen – auch wenn diese Gerichte oft nicht direkt aus den Küchen ihrer Familien stammen, sondern vielmehr ein kulinarisches Eigenleben entwickelt haben. Loyal beschreibt mit viel Gespür für kulturelle Zwischentöne, wie sich die Curry-House-Gerichte ab den 1960er-Jahren als eigene kulinarische Stilrichtung in Großbritannien entwickelten – geprägt durch pakistanische, bangladeschische und nordindische Einflüsse, angepasst an britische Erwartungen und dennoch getragen von der Diaspora. Und doch war das Essen in diesen Lokalen für viele Second-Generation-Kids wie Gurdeep ein Akt des „Curry-Camp“: bunt, laut, klischeehaft – aber auch selbstbestimmt, subversiv und identitätsstiftend. Sie haben damit gewissermaßen die Aneignung wieder in Besitz genommen – und verleihen ihr dadurch eine neue Tiefe. So wird „CTM“ (Chicken Tikka Masala) nicht nur zum Lieblingsgericht der britischen Takeaways, sondern zur Brücke zwischen Generationen, zwischen Ländern, zwischen Zugehörigkeiten. Zwei Beispielrezepte aus diesem Einschub:
– Chicken Tikka Masala nach Art der indischen Restaurants in Leicesters Melton Road
Eine Ode an das vermutlich berühmteste Gericht britisch-indischer Herkunft, zubereitet mit sämiger Sauce und aromatischer Tomatennote.
– Balti Cholay mit Sternanis und Minze
Kichererbsen auf die britisch-pakistanische Art: in einer kräftigen Sauce mit unerwarteten Aromen wie Sternanis und frischer Minze – old school meets spice twist.
Raitas, Rice & Sides (Raitas, Reis & Beilagen)
Dieses Kapitel nimmt eine charmante, fast schelmische Wendung: Gurdeep eröffnet mit einem augenzwinkernden Bezug auf das Kama Sutra, nicht als Erotikratgeber, sondern als philosophische Anleitung zu sinnlicher Lebensfreude – Essen inklusive.
Die hier versammelten Beilagen und Nebengerichte sind genau das: kleine, aromatisch aufgeladene Freudenbringer, die einem Gericht Tiefe, Kontrast und Spannung verleihen. Es geht nicht um klassische „Sides“, sondern um kompositorische Bausteine, die durch überraschende Zutaten, Third-Culture-Aromen und ungewöhnliche Paarungen glänzen. Diese Begleiter dürfen das Hauptgericht gern überstrahlen – oder sich in den Vordergrund räkeln, während der Rest des Tellers sich angenehm zurücknimmt. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Dopiaza Kartoffel-Gratin mit Za’atar
Eine Neuinterpretation der Dopiaza Currys (mit viel Zwiebeln!), hier als Auflauf mit cremigen Kartoffeln und Levante-Würze – warm, aromatisch und wunderbar sättigend.
– Fenchel-Confit mit Kaffirlimette und Kreuzkümmel
Langsam geschmorter Fenchel mit zitrusfrischer Note und würziger Tiefe – perfekt als leichtes Sommergericht oder als Beilage zu Currys, Fisch oder Gegrilltem.
– Knusprige Vindaloo-Auberginen mit Sardellen-Chili-Joghurt
Die Süße und Weichheit der Aubergine trifft auf pikant-knackige Kruste, während der salzig-würzige Joghurt mit Sardelle, Chili und cremiger Kühle den perfekten Kontrapunkt setzt – ein echtes Aromenspektakel.
Rotis, Naan, Parathas & Puri (Rotis, Naan, Parathas & Puri – die Kunst der indischen Fladenbrote)
Gurdeep steigt mit einem liebevoll ironischen Vergleich ein: Wenn Punjab die „Kornkammer Indiens“ ist, dann ist seine Wohnung im Londoner East End die „Brotkammer von East London“ – vollgestopft mit kulinarischen Einflüssen aus aller Welt, von Challah bis Bacon-Naan.
In diesem Kapitel zeigt er, wie Brot in der indischen Küche nicht nur Beilage, sondern oft Bühne und Träger aller Aromen ist. Ob in Butter getränkt, in Ghee gebacken oder mit würzigen Füllungen vollgepackt – jedes Rezept hier feiert den wohligen Kohlenhydrat-Genuss. Sein Fazit dazu: „There’s no such thing as bad carbs.“ (S. 185). Mit einem Augenzwinkern stellt er klar: Du brauchst weder Tandoor-Ofen noch Tawa-Pfanne – eine Weinflasche als Nudelholz und eine ganz normale Pfanne auf dem Induktionsherd tun’s auch.
Das Kapitel enthält Basisrezepte für die wichtigsten indischen Brotsorten:
-
- Roti
- Chapati
- Paratha
- Naan
- Puri (frittierte Brotkissen)
in vielfältigen Varianten und mit verschiedenen Ideen für Füllungen. Diese Brote können eigenständige Gerichte sein oder zu Currys, Dals und Chutneys gereicht werden – oft aber sind sie das heimliche Highlight auf dem Teller.
Chutneys, Sauces, Pickles & Achaar (Chutneys, Saucen, Pickles & Achaar – die kleinen Stars mit großer Wirkung)
In Gurdeeps Welt sind Chutneys, Dips und Pickles keine Nebensache – sie sind das geschmackliche Epizentrum vieler Mahlzeiten. In seiner Familie thronen sie in der Tischmitte auf einem Ehrenplatz und bekommen mehr Aufmerksamkeit als manches Hauptgericht.
Ob sorgsam punktuell geträufelt oder leidenschaftlich über alles gegossen – diese würzigen, sauren, süßen oder scharfen Komponenten bestimmen den Ton eines ganzen Tellers. Das Kapitel feiert sie als das, was sie wirklich sind: charakterbildende Elemente, die Textur, Spannung und Identität bringen.
Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff „khararah“ – ein Punjabi-Wort für das Gefühl, wenn Würze schneidend und süchtig machend zugleich ist. Die hier vorgestellten Rezepte sollen genau das erreichen – aber auf Third-Culture-Art: mal indisch inspiriert, mal unerwartet global, immer verspielt. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Koriander-, Frühlingszwiebel- und Curryblätter-Chutney
Grün, frisch, pikant – ein Alleskönner unter den Kräuter-Chutneys mit Tiefgang durch angebratene Curryblätter.
– Tamarinden-, Datteln- und Minzsauce
Fruchtig, sauer, kühlend – ein Klassiker neu aufgestellt, der hervorragend zu Samosas, frittiertem Gemüse oder gegrilltem Fleisch passt.
– Kokosnuss-, Za’atar- und Ahornsirup-Chutney
Eine weiche, runde, Mischung mit nahöstlichem Flair – perfekt zu würzigen Currys als süß-saurer Kontrast.
– Schwarzer Knoblauch, Tamarinden- und Kokum-Ketchup
Dunkel, intensiv, umami: Dieser „Ketchup“ könnte glatt eine Sauce für Gourmet-Burger sein – oder ein extravaganter Dip für Süßkartoffel-Fritten.
– Eingelegte rote Zwiebeln mit Lychees
Süß-sauer, floral, knackig – ein perfekter Farbtupfer auf dem Teller und genial zu scharfem Fleisch oder Reisgerichten.
– Scharfe Mangosauce
Tropisch mit Feuer: Die Sauce verbindet reife Mango mit scharfen frischen Chili und Gewürzen zu einem Hitzeschub, der jedes Gericht anhebt.
Sweet Things, Burfis & Desserts (Süßes, Burfis & Desserts – Zuckerglück in Aromenakkorden)
Dieses Kapitel beginnt mit einer der poetischsten und persönlichsten Passagen des ganzen Buches: Gurdeep erinnert sich an seine erste Reise ins Dorf seiner Mutter im Punjab – eine Flut an Gerüchen, Farben, Geräuschen und Emotionen, fest verbunden mit der Erinnerung an klebrige Toffees, rosa Milchbonbons und den Moment, in dem ihm seine „kulinarische Herkunft“ buchstäblich in die Hand gedrückt wurde. Süßes hat in seiner Familie eine klare Aufgabe: „Moo mitha karo“ – „Versüße dir den Mund“. Dabei geht es nicht nur um Nachspeisen im westlichen Sinn, sondern um emotionale Zuckeranker, um generationsübergreifende Freude, die sich in Burfis, Bonbons, Milchpuddings oder modern interpretierten Torten ausdrückt. Exemplarische Rezepte aus diesem Kapitel:
– Biskuit-Torte mit Maracuja, Himbeeren und Rosenwasser
Ein optisch spektakuläres Layer-Dessert, das Frucht, Blüte und Zartheit verbindet – ideal für besondere Anlässe oder zum Beeindrucken.
– Klassische Vanille-, Kardamom- und Safran-Burfis
Süß, cremig, schmelzend: Diese Milchkonfekte bringen mit duftenden Gewürzen einen Hauch von Festtag in jede Küche.
– Muffins mit Lychees, Kokosnuss und dunkler Schokolade
Fruchtige Exotik trifft auf herbe Tiefe – ein Dessert mit Soft-Crunch-Textur und Aromen, die neugierig machen.
– Pistazien-Sumach-Madeleines mit Rosen-Milch-Konfitüre
Französische Form, südasiatisches Aroma: ein Paradebeispiel für Gurdeeps Stil. Die Kombination aus nussiger Säure, fluffigem Teig und floraler Süße ist einzigartig.
– Chocolate Chai Pie
Knuspriger Boden, süße Füllung, kräftige Gewürze: Diese Pie bringt den Nachmittagstee in Dessertform auf den Teller – mit Nachdruck.
3. Zielgruppe
„Mother Tongue“ richtet sich an eine sehr vielseitige, neugierige Leserschaft – dieses Buch spricht nicht eine Zielgruppe an, sondern gleich mehrere mit Überschneidungen:
Foodies & Aromenliebhaber*innen
Wer gerne mit Gewürzen experimentiert, mutige Geschmackskombinationen liebt und offen für Third-Culture-Küche ist, wird hier fündig. Die detaillierten Geschmacksbeschreibungen, Flavour-Chord-Konzepte und Zutatenvielfalt machen es zu einer Spielwiese für fortgeschrittene Hobbyköch*innen.
Kulturell interessierte Leser*innen
Loyals sehr persönlicher Zugang zu Essen als Identitäts- und Erinnerungsspeicher macht das Buch besonders reizvoll für alle, die sich für Migration, Zugehörigkeit, kulinarische Erzähltraditionen und kulturelle Hybridität interessieren. Wer Yotam Ottolenghi oder Ravinder Bhogal schätzt, wird sich auch hier zuhause fühlen.
Für Genussmenschen mit Lust auf Storytelling
Die Rezepte sind keine isolierten Anleitungen, sondern Teil eines größeren Narrativs. Wer Kochbücher auch gerne liest, nicht nur bekocht, wird die vielen persönlichen Einschübe, Essays und Reflexionen zu Themen wie Diaspora, „Authentizität“ oder kulinarischer Herkunft mit Gewinn genießen.
Für ambitionierte Hobbyköch*innen mit Basiswissen
Man braucht kein Profiequipment, aber schon ein gutes Grundverständnis für Küchenprozesse und Gewürze. Viele Gerichte sind komplex komponiert, manche Zutaten (wie Kasundi, Kokum, Urfa-Chili, schwarzer Knoblauch) eher in gut sortierten Läden erhältlich – wer Spaß an solchen Entdeckungen hat, ist hier richtig.
Für Second-Generation-Köch*innen und kulinarische Grenzgänger
Wer selbst zwischen Kulturen lebt oder aufgewachsen ist, findet in diesem Buch nicht nur Rezepte, sondern auch ein Stück Spiegel. Gurdeep schreibt explizit für all jene, die sich oft „zwischen allem“ wiederfinden – und genau darin eine neue kulinarische Heimat erschaffen möchten.
4. Rezepte und Vielfalt
- Anzahl der Rezepte: rund 100 Rezepte
- Vielfalt der Gerichte:
Die Rezeptpalette ist bewusst vielschichtig und interkulturell angelegt – von traditionellen indischen Currys bis hin zu ungewöhnlichen Fusion-Gerichten, die mit Elementen aus der japanischen, nahöstlichen, britischen oder sogar amerikanischen Küche spielen. Dazu kommen zahlreiche Brot- und Dipvarianten, schnelle Pfannengerichte, Ofengerichte, Wraps, Chaats und süße Bäckereien – ein Kochbuch, das von der Frühstückszeit bis zum späten Mitternachtssnack einsetzbar ist. - Originalität & Kreativität:
Dieses Buch lebt von kreativen Aromen-Remixen: „Cultural Collage Cooking“ wird nicht nur behauptet, sondern konsequent durchdekliniert. Die „Flavour Chords“ bieten ein komplett neues, spielerisches Vokabular, das Rezeptdenken ersetzt durch Aromendenken. Typische Restaurantgerichte wie Chicken Tikka Masala oder Balti-Cholay werden in eigene Erlebnisse transformiert – keine Nachahmung, sondern persönliche Neuinterpretation. Selbst altbekannte Klassiker (Naan, Roti, Raita, Pickles) bekommen eine neue Tiefe durch ungewöhnliche Zutaten und smarte Twists. Viele der Rezepte sind so individuell, dass man sie nur schwer einer bestimmten Herkunft zuordnen kann – sie sind komponiert, nicht adaptiert. Genau das macht den Reiz aus.
5. Schwierigkeitsgrad
„Mother Tongue“ ist kein Einsteiger-Kochbuch im klassischen Sinne – aber es ist auch kein Buch, das mit komplizierten Techniken prahlt oder Küchenprofis vorbehalten bleibt. Stattdessen lebt es von einem mittleren bis fortgeschrittenen Niveau, bei dem das Wichtigste nicht Messerfertigkeit oder Timing ist, sondern: Aromenverständnis und Neugier. Was man mitbringen sollte ist der Spaß am Kochen mit Gewürzen, insbesondere auch solche, die nicht zum gängigen Standard gehören (Kokum, Urfa-Chili, Kasundi, schwarzer Knoblauch, Curryblätter, Tamarinde etc.). Grundkenntnisse im Umgang mit Teigen, Pfannengerichten und Ofenrezepten sind hilfreich – hier wird nichts ausführlich erklärt, aber vieles intuitiv dargestellt. Und nicht zuletzt: Freude an freiem Nachkochen! Loyal schreibt ausdrücklich, dass Abweichungen von seinen Rezepten willkommen sind – das ist inspirierend, verlangt aber Eigenständigkeit.
Was für Anfänger*innen eventuell herausfordernd sein kann: Einige Rezepte sind mehrstufig (z. B. ein Brot mit einer Füllung und einem begleitenden Dip) und verlangen eine gewisse Planung. Die Zutatenlisten sind manchmal lang, was aber fast immer durch den Geschmack gerechtfertigt ist. Das Zeitgefühl muss oft selbst eingeschätzt werden – die Anleitungen sind eher erzählerisch als schulbuchmäßig. Wer ein wenig vorbereitet und neugierig ist, wird auch als fortgeschrittene*r Anfänger*in schnell Erfolgserlebnisse haben.
Fazit: mittel bis ambitioniert, aber durch den erzählerischen Stil, die Aromenschärfe und die kreative Freiheit wird das Buch nie einschüchternd. Eher ist es ein Aufruf, sich mehr zuzutrauen – mit viel Geschmack im Gepäck.
6. Fotografie und Design
- Bildqualität
Die Foodfotografie stammt von Jax Walker – und sie ist bewusst reduziert: Einzelne Teller, Pfannen, Schälchen oder Dips werden ohne drumherum in Szene gesetzt. Die Fotos wirken fast wie ausgeschnitten, ohne Ablenkung durch Umgebung, Tischszenen oder Requisiten. Dadurch rückt das Gericht als solches in den Fokus. Die Kamera blickt meist von oben, seltener von schräg vorne. Küchenutensilien, Hände oder Szenerien fehlen fast komplett – stattdessen wird das Essen selbst zur grafischen Form. Das ergibt eine sehr klare, moderne Bildsprache, fast wie ein Moodboard aus Food-Ikonen.
Was man vermisst: Zubereitungsschritte werden nicht abgebildet, und es gibt nicht zu jedem Rezept ein Foto. Das ist schade, aber die vorhandenen Bilder sind hochwertig, stylisch und konsequent ins Layout integriert.
- Layout und Gestaltung
Für das Design zeichnet Evi O (Evi O Studio) verantwortlich – und das merkt man sofort. Das Buch hebt sich klar vom Standard-Kochbuch ab: Das knallige Cover in kräftigem Pink mit Paisley-Muster ist ein Statement: laut, selbstbewusst, kulturell verankert und gleichzeitig verspielt. Dieses Pink heißt in Indien „gulabi“ (गुलाबी) und ist eine Farbe, die Wärme, Gastfreundschaft und Zuneigung symbolisiert und eine wichtige Rolle im kulturellen Kontext spielt.
Das Paisley-Muster zieht sich wie ein roter Faden durchs Buch: in verschiedenen Farben taucht es immer wieder am Seitenrand oder als Designelement auf – mal dezent, mal auffälliger, immer charmant.Die Grundfarbe innen ist hell und ruhig – viel Weiß, das mit dem Muster kontrastiert. Dadurch entsteht ein aufgeräumter, luftiger Look. Typografie und Seitenstruktur sind sachlich und funktional: Die Schrift ist klassisch-seriös und gut lesbar – auch wenn man bemängeln könnte, dass die Schriftgröße etwas klein geraten ist. Zutatenlisten und Anleitungen sind klar getrennt, der Seitenaufbau ist ordentlich und konsistent.
- Nutzung der Bilder
Die Bilder sind kein reines Styling-Element, aber auch keine Schritt-für-Schritt-Anleitung – sie dienen der ästhetischen Orientierung und der Lust auf den fertigen Teller. Wer visuelle Prozessführung sucht, findet sie hier nicht. Aber wer sich inspirieren lassen möchte, wird in eine moderne, reduzierte Foodwelt hineingezogen, in der das Gericht als Designobjekt inszeniert wird. Besonders gelungen: Die Platzierung der Bilder ist dynamisch, nicht starr. Manchmal mittig, manchmal angeschnitten, immer aber im Dienst der Rezeptidee.Fazit: Ein sehr modernes, bewusst cleanes Gestaltungskonzept, das sich klar vom Food-Foto-Einerlei abhebt – stylisch, jung, mutig. Die reduzierte Bildsprache, das immer wiederkehrende Paisley-Muster und die kräftige Farbsprache ergeben ein kohärentes und absolut wiedererkennbares Erscheinungsbild.
7. Sprache und Anleitungen
Gurdeep Loyal schreibt in einem wärmenden, einladenden Ton, der sofort Nähe herstellt, ohne anbiedernd zu wirken. Sein Stil ist persönlich und reflektiert, mit einem ausgeprägten Gespür für kulturelle Zwischentöne, aber auch mit Humor und Selbstironie.
Was auffällt: Er spricht nicht als Küchenchef, sondern als Gastgeber, als jemand, der teilt, was ihn selbst begeistert. Er verwendet viele bildhafte Begriffe („flavour chords“, „cultural collage“, „festival of paisley“), die seinen Rezepten und Essays eine besondere erzählerische Tiefe verleihen. Auch in den Rezepten bleibt er zugänglich und sympathisch – manchmal werden Alternativen oder Variationen gleich mitgeliefert, oft gibt es kleine Hinweise zur Lagerung oder Wiederverwendung. Der freundliche, gut lesbare Ton dürfte auch dem Lektorat von Lucy Bannell zu verdanken sein – der Text ist sorgfältig redigiert, sprachlich durchgängig stimmig und stilistisch einheitlich.
Die Rezeptanleitungen sind praxisnah, gut strukturiert und klar gegliedert.
- Zutaten und Arbeitsschritte sind sauber getrennt – der Aufbau ist durchgehend nachvollziehbar.
- Es wird nichts unnötig verkompliziert, aber man bekommt genug Information, um die Rezepte auch beim ersten Mal sicher umzusetzen.
- Besonders angenehm: Es wird nicht „doziert“, sondern „erklärt“ – sachlich, freundlich, verständlich.
Was man vermissen könnte, ist eine stärkere Gewichtung von Zeitangaben oder Portionierungshinweisen – diese sind vorhanden, aber nicht immer prominent.
Gurdeeps Ton macht die Lektüre zum Vergnügen und vermittelt neben kulinarischem Wissen auch Haltung, Persönlichkeit und Humor. Die Anleitungen selbst sind klar, konsistent und für ambitionierte Hobbyköch*innen absolut verlässlich.
8. Besonderheiten
„Mother Tongue“ ist nicht einfach nur ein Kochbuch – es ist ein kulturelles, persönliches und ästhetisches Gesamtprojekt, das über den Tellerrand hinausblickt und dabei doch sehr klar im Geschmack bleibt.
Gurdeep Loyal gelingt es, das Thema Migration, Identität und Essen so zu verweben, dass man beim Lesen genauso viel über die Welt lernt wie über Aromen. Das Buch hat eine Haltung, ohne sich als Manifest aufzudrängen – und es vermittelt kulinarisches Wissen nicht über Technik, sondern über Zugehörigkeit.
Am Ende des Buches findet sich eine außergewöhnlich gelungene und klug kuratierte Seite mit Empfehlungen: „Inspirational Reading, Viewing and Listening“: Bücher, Podcasts, YouTube-Videos, Radiobeiträge, Artikel und Twitter-Accounts, die sich mit
- der Geschichte indischer (und anderer diasporischer) Esskulturen,
- postkolonialen Perspektiven auf Kulinarik,
- und dem Wandel von Küche durch Migration befassen.
Das ist nicht nur ein toller Service, sondern auch ein Zeichen dafür, wie tiefgründig und vernetzt dieses Buch denkt. Wer weiterlesen, -hören oder -schauen will, bekommt hier reichlich Anregung.
Was mir außerdem gut gefällt: Der Index am Ende ist nach Zutaten geordnet, nicht alphabetisch nach Rezepttiteln – das ist besonders hilfreich, wenn man wissen will, was man mit vorhandenen Zutaten kochen kann. Diese Form der Zugänglichkeit spricht besonders erfahrene Hobbyköch*innen an, die nicht nur nach Rezepten, sondern nach Inspiration suchen.
Der Begriff und die Darstellung von „Flavour Chords“ ist nicht nur originell, sondern tatsächlich anwendbar – wie ein musikalisches Denken in Aromen. Ein System, das auch auf andere Bücher, Küchen oder eigene Rezeptkreationen übertragbar ist.
Mother Tongue ist hoch individuell, vielschichtig gedacht und vermittelt Wissen über Küche, Migration und Identität, ohne je schulmeisterlich zu wirken. Die vielen kleinen Exkurse, Lese- und Hörempfehlungen sowie das gestalterisch durchdachte Gesamtbild machen es zu einem besonderen, zeitgemäßen Kochbuch, das über den Tellerrand hinausblickt – und damit lange im Gedächtnis bleibt.
9. Preis-Leistungs-Verhältnis
Preis des Buches: 26GBP (englische Originalausgabe, Hardcover), im deutschen Buchhandel ab ca. 16 Euro erhältlich
Für das, was dieses Buch bietet, ist der aktuelle Preis ein echtes Geschenk. Denn „Mother Tongue“ liefert nicht nur über 100 Rezepte, sondern auch ein durchdachtes, mehrfach nutzbares Aromen- und Gestaltungskonzept, eine ästhetisch anspruchsvolle Gestaltung mit hohem Wiedererkennungswert, inhaltlichen Tiefgang zu Migration, Identität und Diaspora-Küche, persönliche Essays mit literarischer Qualität, eine multimediale Inspirationssammlung und zahlreiche kreative, alltagstaugliche Ideen für die eigene Küche.
Allein das Design mit dem konsequent eingesetzten Paisley-Muster, die Bildsprache, die liebevolle Typografie und das durchgängige Stilgefühl würden einen höheren Preis rechtfertigen. Dazu kommen noch Rezeptideen, die sich nicht recyceln oder nachahmen, sondern eigenständig entwickelt und durchdacht sind.
Fazit: Ein hervorragendes Preis-Leistungs-Verhältnis – selten bekommt man für unter 20 Euro ein derart reichhaltiges, visuell starkes und inhaltlich tiefes Kochbuch.
Absolute Empfehlung auch als Geschenk!
10. Gesamteindruck und Empfehlung
„Mother Tongue“ ist ein Statement – kulinarisch, kulturell, gestalterisch.
Es ist eines dieser seltenen Kochbücher, die nicht nur Lust aufs Kochen machen, sondern zum Nachdenken anregen, Fragen stellen und dabei mit jeder Seite tief berühren. Gurdeep Loyal gelingt es, die eigene Geschichte, Gewürzleidenschaft, Identität und gestalterische Klarheit so zu vereinen, dass am Ende ein Buch steht, das sich weder einordnen noch überblättern lässt. Es ist voller Aromen, aber auch voller Haltung – und dabei niemals belehrend, sondern einladend, inspirierend und voller Lebensfreude.
Die kreative Tiefe (Stichwort: „Flavour Chords“), die liebevolle Gestaltung (Hallo, „Paisley-Festival“!) und die Rezepte, die zugleich ungewöhnlich und nachkochbar sind, machen dieses Werk zu einem multidimensionalen Lieblingsbuch – und zu einem Löffelgold-Kandidaten par excellence.
💛 Für mich ist „Mother Tongue“ somit ein klarer LeseLust- & Löffel‑Liebling fürs Leben. Ein Buch, das in keiner Sammlung fehlen sollte – und das man nicht nur liest, sondern das einen begleitet. Dieses Buch ist ein echtes Ausnahme-Kochbuch – in Inhalt, Gestaltung, Anspruch und Herzblut. Es kocht nicht nur mit Zutaten, sondern mit Identität, Geschichte und Sehnsucht.
Die Rezepte sind kreativ, die Aromenkombinationen brillant, das Design modern und unverwechselbar, und Gurdeeps Stimme als Autor macht das Buch zu mehr als einer Rezeptsammlung. Hier erzählt jemand, wie Küche zum Ort der Selbstverortung werden kann – und wie sich Tradition und Zukunft beim Kochen gegenseitig inspirieren. Wer sich einlässt, bekommt nicht nur Ideen, sondern auch Haltung, Tiefe und ganz viel Lust aufs Improvisieren mit dazu.
11. Bewertung
- Gesamtbewertung: 🥄🥄🥄🥄🥄🥄
- Bewertung nach Kategorien:
• Inhalt und Konzept: 🥄🥄🥄🥄🥄🥄
• Zielgruppe: 🥄🥄🥄🥄🥄🥄
• Rezepte und Vielfalt: 🥄🥄🥄🥄🥄🥄• Schwierigkeitsgrad: 🥄 🥄🥄🥄
• Fotografie und Design: 🥄🥄🥄🥄🥄🥄
• Sprache und Anleitungen: 🥄🥄🥄🥄🥄🥄
• Besonderheiten: 🥄🥄🥄🥄🥄🥄
• Preis-Leistungs-Verhältnis: 🥄🥄🥄🥄🥄🥄
12. Nachgekocht

(Desi kofta meatballs with sticky mango-lime tomatoes), S. 90
Gurdeep Loyal schreibt in der Einführung zum Rezept, dass er aus einer Punjabi-Familie aus Whiskytrinkern stamme, die eine Schwäche für süß-saure, würzige und geräucherte Geschmacksnuancen hat. Und alles sei in diesem Rezept enthalten.

Die Fleischbällchen werden aus Schweinehackfleisch gemacht, das mit Grieß gebunden wird, Schalotten, reichlich Knoblauch und Ingwer kommen auch hinein und ebenso ein möglichst rauchiger Whisky, Garam masala, Koriandergrün, Chili, Pfeffer und Rauchsalz (ich habe das von Maldon genommen, das ist viel milder als z.B. dänisches, das man im Supermarkt bekommt).
Sie dürfen erst ruhen und werden dann in Ghee angebraten.
Danach werden in der Pfanne Limettenschale und -saft, Zucker, Honig und Mango Chutney karamelisiert. In die klebrige Masse kommen ganze Cherrytomaten und wiederum etwas Rauchsalz sowie frische Minze und frischer Koriander. Das Ganze kommt dann zusammen noch einmal für fast eine Stunde in den Backofen.
Vor dem Servieren kommt noch mal etwas Whisky und Limettensaft dazu, sowie angeröstete Mandelblätter. Dazu werden frische Mango in Scheiben und Reis gereicht.
Ganz wunderbar, einfach sensationell!


Diese Fülle von Aromen ist fantastisch – ich bin gefühlt einmal durch das halbe Gewürzregal gegangen, als ich die Paste angerührt habe: Kreuzkümmel, Sternanis, Koriander, Anis, schwarzer Kardamom, Nelken, Asafoetida, Chili, Bockshornkleeblätter, Amchoor, Macis und Kurkuma werden mit Tomatenmark und Wasser vermischt.
Die Kichererbsen werden darin mit Schalotten, viel Knoblauch und Ingwer angebraten und dann dürfen noch Tomaten, recht viel brauner Zucker und Salz mit hinzu. Die Süße wird wieder ausgeglichen durch ein Püree aus reichlich frischer Minze und und Tamarindenpaste, das nach der Hälfte der Kochzeit noch dazugegeben wird. Am Ende wird noch mit Zitronensaft abgeschmeckt und eine rote Zwiebel kommt frisch obenauf dazu— das passte perfekt. Das war soooo lecker!

Das Rezept gibt es auch im Netz auf der Seite von Chetna Makan – dort gibt es auch ein Video, in dem sie es mit Gurdeep Loyal gemeinsam kocht. Fan-tas-tisch!


Für die Sauce wird frische Kokosnuss gerieben; dann werden geröstete Cashewkerne mit Zitronensaft und abgeriebener Schale sowie Ingwer, Knoblauch und Garam masala sowie etwas Essig zu einer Paste gemixt, die unter die Kokosnuss gehoben wird.
Reichlich grüne Kräuter (Koriander, Petersilie, Minze, Dill) werden mit grüner Chili und Wasser ebenfalls zu einer Paste gemixt.
Danach werden gehackte Currybaumblätter in einer Pfanne mit gemörserter Fenchel- und Koriandersaat angeschmort und Schalotten dürfen dann auch noch dazu, bevor die Kokosnusspaste hinzukommt – und Sahne!
Damit ist die Sauce fertig.
Der Fisch (hier Wildlachs, Kabeljau und Garnelen) darf in Limettensaft und -abrieb, dem Salz und zerstoßener Kardamom zugegeben sind, marinieren.
In das Kartoffelpüree kommen Eigelb, Butter, reichlich Knoblauch, Muskatnuss, Amchoor und Pfeffer.
Dann wird geschichtet: Die Hälfte der grünen Sauce in eine Auflaufform geben, Fischstücke mit Marinade darauf verteilen, wiederum mit Sauce bedecken und das Kartoffelpüree obenauf schichten. Nach gut 40 Minuten im Backofen ist die Pie fertig und wird mit frischem Koriander und ggf. auch etwas gehacktem grünen Chili und Kokosnusschips serviert.
Ein Aromenspektakel! Relativ aufwändig, aber es lohnt sich! Oberhammerlecker!!

